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16 Jan. 2025 von lbigmr

LBI-GMR beim Sacharow-Preis

Am 17. Dezember verlieh das Europäische Parlament den Sacharow-Preis 2024 an die venezolanischen Oppositionellen Edmundo González Urrutia und María Corina Machado. Unser Leitungsteam Michael Lysander Fremuth und Patricia Mussi-Mailer war eingeladen, den Feierlichkeiten beizuwohnen, und veröffentlichte seine Gedanken zur Bedeutung des Preises für Europa in einem „Standard“-Kommentar.

Der Kampf für Demokratie und Menschenrechte hat kein Parteibuch

In Venezuela kämpfen Konservative gegen den Autokraten Maduro. Die heurigen Sacharow-Preis-Träger kommen zu Recht aus diesem Land. Das Beispiel Venezuela ist auch eine Mahnung für Europa.

Die Demokratie ist entgegen hoffnungsvollen Erwartungen, wie sie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Mode kamen, keineswegs auf dem Vormarsch – im Gegenteil! Auch wenn man weiterhin der Mehrheit der Menschen unterstellen möchte, dass sie selbstbestimmt zu leben und über ihr Schicksal mitzuentscheiden wünschen, nimmt die Zahl der liberalen Demokratien weltweit ab und wird eine große Mehrheit der Menschen nicht demokratisch regiert.

Das Ausmaß des Abbaus der Demokratie variiert auch in Europa: Innerhalb der Europäischen Union hat Viktor Orbán in Ungarn die „illiberale Demokratie“ etabliert; in Georgien hingegen kämpfen viele Menschen für das Versprechen der EU von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gegen die autokratische Regierung. In der Ukraine schließlich wird dieser Kampf für Freiheit und Demokratie gegen den russischen Aggressor mit Waffen ausgetragen und mit einem hohen Blutzoll bezahlt.

Mutiger Kampf

Mit der Verleihung des Sacharow-Preises für Menschenrechte an Edmundo González Urrutia und María Corina Machado hat die EU heuer ein Zeichen für Demokratie und Menschenrechte gesetzt. Beide gehören der venezolanischen Opposition an und haben sich mutig im eigenen Land gegen das übermächtige Maduro-Regime gestellt, das die Menschenrechte mit Füßen tritt. Ihr Kampf vereint sie nicht nur mit dem ersten Preisträger, Nelson Mandela, sondern auch mit dem Namensgeber des seit 1988 vergebenen Preises, Andrei Sacharow. Der russische Physiker und langjährige Mitarbeiter im Kernwaffenprogramm der UdSSR wandte sich gegen das kommunistische Regime und bezahlte dafür mit sechs Jahren Exil und seiner Gesundheit. Er wurde 1975 für seinen Einsatz für Demokratie und Menschenrechte mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Der heurige Preisträger Urrutia wurde vom Europäischen Parlament als legitimer Sieger der letzten Präsidentschaftswahl in Venezuela anerkannt, musste aber das Land verlassen, als Nicolás Maduro den Sieg für sich beansprucht hatte und seine persönliche Sicherheit bedroht war. Machado, die ursprüngliche oppositionelle Präsidentschaftskandidatin und Bürgerrechtsaktivistin, war bereits zuvor von der Wahl ausgeschlossen worden und ist inzwischen untergetaucht, sodass ihre Tochter den Preis Mitte Dezember in Straßburg entgegennehmen musste.

Demokratinnen und Demokraten leben gefährlich, und die Würdigung Urrutias und Machados verdeutlicht einmal mehr, dass der Kampf für Demokratie und Menschenrechte kein Parteibuch hat. Während es im Europa des frühen 21. Jahrhunderts gesetzt zu sein scheint, dass sich insbesondere der linke Teil des politischen Spektrums die Menschenrechte auf die Fahnen heftet, sind es in Venezuela die Konservativen, die sich gegen die korrupte Autokratie Maduros stemmen – eines selbsterklärten Sozialisten. Dieser Umstand darf als probate Erinnerung dafür angesehen werden, dass die Menschenrechte als zentrale Errungenschaft des 20. Jahrhunderts von allen politischen Kräften und zu jeder Zeit vorbehaltlos gewahrt werden müssen – und nicht nur dann, wenn der politische Gegner sie einzuschränken anstrebt. Zugleich unterstreicht die Auswahl der Preisträger, dass Demokratie und Menschenrechte zwar nicht identisch sind, sie sich aber wechselseitig verstärken. Die Menschenrechte verlangen zumindest rudimentäre Möglichkeiten der politischen Teilhabe, und der effektive Schutz der Menschenrechte gelingt in Demokratien besser.

Dies zeigt nicht zuletzt auch das Beispiel Venezuelas, das auf mehrere Jahrzehnte einer funktionierenden Demokratie (1950er- bis 1990er-Jahre) zurückblicken darf. Ausufernde politische Korruption hat das rohstoffreiche Land in den Bankrott geführt; Hyperinflation, Massenarbeitslosigkeit und Armut prägen das Leben und haben zu einer massiven Auswanderung geführt. Die menschenrechtliche Lage unter dem Unterdrückungsregime ist auch hinsichtlich der bürgerlich-politischen Freiheiten, sei es Meinungs- und Demonstrationsfreiheit, sei es hinsichtlich des Schutzes von persönlicher Freiheit und vor Folter, prekär.

Kein selbstheilendes System

Dies ist eine Mahnung auch für Europa. Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten sowie institutionelle Garantien, denn sie ist kein selbstheilendes System. Wenn korrupte Macht einmal etabliert ist und die demokratischen Institutionen geschwächt sind, genügt es nicht, Wahlen durchzuführen, um das Ruder herumzureißen. Es braucht Politikerinnen und Politiker, die sich nicht scheuen, zukunftstaugliche Entscheidungen zu treffen und zu verantworten, auch wenn sie es nicht allen recht machen. Es braucht Bevölkerungen, die am Erfolg des Gemeinwesens interessiert und die informiert sind, die Ambiguitäten und Ambivalenzen aushalten und die in Zeiten enormer Polarisierung nicht den vermeintlich einfachen Antworten aufsitzen, sondern die Komplexität von Herausforderungen anerkennen. Es braucht eine Gesellschaft, die respektvoll und sachlich miteinander um das bessere Argument und die bessere Lösung streitet, die politische Niederlagen der selbst präferierten Politik akzeptiert, die verzeiht und an das zentrale Versprechen der Demokratie glaubt, nämlich dass heute minoritäre Positionen morgen die Mehrheit erlangen können.

Das EU-Parlament ist die zentrale demokratische Säule der Union und trägt eine große Verantwortung für die Verteidigung der Demokratie als eines zentralen Werts eines Integrationsprojekts, das als Wirtschaftsgemeinschaft begonnen hat. Auch mit der Auswahl der Sacharow-Preis-Träger hat es heuer diese Verantwortung übernommen.

Dieser Kommentar, verfasst von unserem wissenschaftlichen Direktor Michael Lysander Fremuth und unserer administrativen Leiterin Patricia Mussi-Mailer, wurde am 30. Dezember 2024 in „der Standard“ veröffentlicht.

a. Edmundo González Urrutia, Ana Corina Sosa (v.l.n.r) @EU-Parlament