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27 Okt. 2025 von lbigmr

Unerwünschte Erinnerung an Stalins Repressionen – Human Rights Talk in Graz

Am 23. Oktober 2025 widmete sich ein Human Rights Talk im Meerscheinschlössl in Graz der Frage, wie Erinnerung an die stalinistischen Verbrechen heute verhandelt wird – und wie sie mit gegenwärtiger Machtpolitik und Menschenrechtsfragen zusammenhängt.

Unter dem Titel „Unerwünschte Erinnerung an Stalins Repressionen – Menschenrechte, Machtpolitik und historische Narrative“ diskutierten internationale Expert:innen vor zahlreichem Publikum sowie im Livestream.

Eröffnung
Barbara Stelzl-Marx, Direktorin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung (BIK), eröffnete mit dem Bild der Vergangenheit als „seismographisches Frühwarnsystem“. Drei Jahrzehnte Forschung über Stalins letzte Opfer, darunter auch Österreicher:innen, machten deutlich, dass die ungelöste Fragen der Vergangenheit die Gegenwart prägen.

Michael Lysander Fremuth, Wissenschaftlicher Direktor des LBI für Grund- und Menschenrechte (LBI-GMR), stellte die Human Rights Talks als Forum vor, das Wissenschaft und Öffentlichkeit zusammenbringt. Er verwies auf die Kooperation mit dem BIK, die erstmals einen Human Rights Talk nach Graz brachte. Mit Blick auf das Thema des Abends unterstrich er: „Staaten ohne Geschichte sind unvorstellbar, Geschichte ohne eine Kultur der Erinnerung bleibt hingegen stumm und bietet keine Lehren für die Zukunft.“

Elvira Welzig, Geschäftsführerin der Ludwig Boltzmann Gesellschaft, warnte davor, dass autoritäre Systeme Geschichte umschreiben, um Machtinteressen durchzusetzen – ein Prozess, der sich in Russland exemplarisch beobachten lässt. Dieses bewusste Verdrehen und Auslöschen von Erinnerung sei nicht nur ein historisches Phänomen, sondern eine aktuelle politische Praxis, die demokratische Diskurse schwäche und langfristig gefährde.

Joachim Reidl, Vizerektor der Universität Graz, hielt ein Plädoyer für Universitäten als Räume der Pluralität, Diversität und Inklusion. Gerade im Angesicht der Einschränkungen kritischer Stimmen in Russland sei es Aufgabe von Wissenschaft und Bildung, Erinnerung offen und vielfältig zu gestalten.

Keynote
Der russische Historiker Nikita Petrov, stellvertretender Vorsitzender des Forschungs- und Informationszentrums Memorial, widmete seine Rede dem Großen Terror 1937–38. Viele Russ:innen sähen die Repressionen bis heute wie eine Art Naturkatastrophe, nicht als von Stalin geplantes Verbrechen gegen das eigene Volk. Archive seien zunehmend unzugänglich, das Gulag-Museum in Moskau bleibe geschlossen, Geschichtsbücher verharmlosten die Gewalt. „Wir haben ein Recht auf Geschichte“, so Petrov.

Podiumsdiskussion
In der anschließenden Diskussion schilderte Sofiya Lipenkova, Projektmanagerin am LBI-GMR, eindringlich ihre Familiengeschichte: Bis zu elf Verwandte seien Opfer der Repressionen geworden, ihr Großvater im Gulag geboren. Versuche, die Familiengeschichte zu rekonstruieren, seien schwierig, die verfügbaren Dokumente und Briefe lückenhaft. Jedoch: „Dieses generationenübergreifende Gedächtnis lässt sich nicht auslöschen. Sturheit und Widerstandskraft sind uns eingeschrieben“, betonte sie.

Anatoly Reshetnikov, Assistenzprofessor an der Webster Vienna Private University, beleuchtete die gegenwärtige Instrumentalisierung der Geschichte in Russland. Offizielle Narrative verurteilten zwar extreme Gewalt, erklärten sie aber unter außergewöhnlichen Umständen für notwendig und legitim. In Schulbüchern nehme die Glorifizierung des Krieges weiten Raum ein, während Gulag und Terror kaum erwähnt würden. Damit werde ein Geschichtsbild geschaffen, das gegenwärtige Repressionen rechtfertigt.

Anna Graf-Steiner, Forscherin am BIK, richtete den Blick auf die 1960er und 1970er Jahre. Während im Westen die Menschenrechtsdebatte von individuellen Rechten geprägt war, stand im Osten der Gedanke kollektiver Rechte im Vordergrund. Auch die KSZE-Schlussakte sei von dieser Ambivalenz durchzogen – ein Befund, der zeige, wie sehr unterschiedliche Verständnisse von Menschenrechten den politischen Diskurs bis heute prägen.

Nikita Petrov knüpfte daran an und schilderte seine eigene Erfahrung aus sowjetischer Zeit: Wer in Archiven nach alten Zeitungen suchte, zog sofort die Aufmerksamkeit des KGB auf sich. „Wir mussten unsere Geschichte selbst rekonstruieren, denn vorbereitet lag sie nicht vor“, sagte er. Geschichte sei ein Menschenrecht – eines, das immer wieder neu erkämpft werden müsse.

Pavel Kogan, Aktivist und Mitglied von Memorial Friends Austria, berichtete schließlich von seiner ersten Protesterfahrung mit zwölf Jahren. Heute engagiert er sich im Projekt Returning the Names, das an die Opfer der Stalin-Repressionen erinnert. „In Schulen herrscht Angst – Eltern fürchten, was ihre Kinder lernen, und dass sie dafür bestraft werden könnten“, schilderte er außerdem die Situation der Jugend in Russland.

Q&A
Im Anschluss kam das Publikum intensiv ins Gespräch – sowohl vor Ort als auch über den Chat des Livestreams. Diskutiert wurde etwa, ob Russland ohne eine juristische Verurteilung Stalins jemals zu einer echten demokratischen Kultur finden könne, und welche Rolle internationale Institutionen dabei spielen sollten. Fragen richteten sich auch an die persönlichen Erfahrungen der Diskutant:innen: Wie lassen sich Familiengeschichten weitererzählen, wenn Archive unzugänglich sind? Welche Verantwortung tragen Bildungseinrichtungen, wenn historische Narrative staatlich gelenkt werden?

Fazit
Moderator Wolfgang Mueller, stellvertretender Institutsvorstand des Instituts für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien, fasste zusammen, dass die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus nicht nur eine russische Aufgabe sei: „Es geht nicht darum, anderen die Schuld zuzuschieben. Es geht um eine Debatte, die jede Gesellschaft führen muss.“

Die Human Rights Talks verstehen sich als Plattform für den gesellschaftlichen Diskurs zu aktuellen Themen mit menschenrechtlicher Relevanz. Die Veranstaltungen präsentieren der interessierten Öffentlichkeit hochkarätige Vortragende und analysieren menschenrechtliche Herausforderungen sowie gesellschaftspolitische Strömungen differenziert und mit fachlicher Expertise, zugleich aber auf zugängliche Weise und mit Praxisbezug. Wichtiger Bestandteil des Formats ist neben inhaltlichen Beiträgen die interaktive Publikumsdiskussion.

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