02 Dez. 2024 von lbigmr

Vom Pushback zum Rollback? Die neue EU-Asyl- und Migrationspolitik und ihre Auswirkungen

Ein hochkarätiges Panel diskutierte im Rahmen eines Human Rights Talks über den neuen EU-Asyl- und Migrationspakt.

Nach fast zehnjähriger Debatte hat die EU im Frühling 2024 ihren neuen Asyl- und Migrationspakt beschlossen. Das Bündel aus Verordnungen und Richtlinien sieht erstmals Verfahren an den EU-Außengrenzen vor: Migrant:innen ohne Chance auf Asyl können so an der Weiterreise gehindert und von Grenzlagern aus direkt zurückgeführt werden. Möglich sind zudem Abschiebungen in sichere Drittstaaten. Darüber hinaus gilt ein neuer Solidaritätsmechanismus, der die Verantwortung für die Aufnahme von Asylwerber:innen zwischen EU-Außenstaaten und den anderen EU-Mitgliedstaaten aufteilt. Die Mitgliedsstaaten können sich jedoch von dieser Verpflichtung „freikaufen“, indem sie in einen EU-Topf für Flüchtlinge einzahlen oder operative bzw. technische Unterstützung leisten.

Während manche kritisieren, dass der Pakt eine Abschottung Europas ermögliche und den Schutz der Menschenrechte nicht ausreichend garantiere, reicht er anderen nicht weit genug, um Europa vor ungeordneter Zuwanderung zu schützen und Errungenschaften wie die Freizügigkeit zu bewahren. Wie ist es um die praktische Umsetzung des Pakts bestellt? Und stehen die Maßnahmen im Einklang mit dem Recht auf Asyl, wie es die EU-Grundrechtecharta anerkennt?

Am Ende des politisch aufgeheizten Super-Wahl- und Wahlkampfjahres 2024 warfen hochkarätige Expert:innen im Rahmen eines Human Rights Talks am 28. November 2024 einen Blick auf den Pakt und seine Auswirkungen. Die Veranstaltung fand auf Einladung des Ludwig Boltzmann Instituts für Grund- und Menschenrechte (LBI-GMR), der Universität Wien, der Österreichischen Liga für Menschenrechte und von Amnesty International Österreich unter großem Publikumsinteresse an der Diplomatischen Akademie Wien statt.

In ihrer Keynote kritisierte Anuscheh Farahat, Universitätsprofessorin für Öffentliches Recht an der Universität Wien, u.a., dass die EU versuche, mittels einer rechtlichen Fiktion ihrer Verantwortung zu entgehen. „Wir tun so als wäre die Person nicht hier“, so die Juristin über die Screening-Verfahren an den Außengrenzen. Rückführungen und strenge Einwanderungsgesetze seinen aktuell international in Mode, meinte sie etwa mit Blick auf Donald Trump in den USA. Farahat plädierte dafür, aus dem defensiven Modus in einen positiven überzugehen und sich auf die Chancen zu konzentrieren, um Migrations- und Integrationspolitik neu denken zu können. „Wir brauchen eine Vision, wie man als Gesellschaft langfristig mit Migration umgeht“, so die Juristin.

Einen ähnlich kritischen Blick warf Adel-Naim Reyhani, Senior Researcher am Ludwig Boltzmann Institut für Grund- und Menschenrechte, auf den neuen Asyl- und Migrationspakt. Er sei eine Antwort auf den wahrgenommenen Kontrollverlust und die Stimmung in der Gesellschaft, nicht auf die tatsächliche Realität, mit der wir es zu tun haben, so der Wissenschaftler. „Die Bevölkerung erwartet sich Lösungen für etwas, das nicht gelöst werden kann“, thematisierte er Fluchtgründe wie ökonomische Ungleichheit, Fundamentalismus und Terrorismus.

Kathrin Stainer-Hämmerle, Professorin für Politikwissenschaft an der Fachhochschule Kärnten, sieht eine Gefahr darin, dass die Unterscheidung in „gute“ und „böse“ Zuwanderung noch verstärkt werde. „Es geht um Angst, um Neid und zu wenig um Lösungen“, so die Politologin weiter. Viele gesellschaftlichen Probleme, etwa im Bereich Bildung oder Gewalt gegen Frauen, würden von verschiedenen politischen Akteur:innen mit Zuwanderung verknüpft.

Lukas Gahleitner-Gertz, Sprecher und Asylrechtsexperte der Asylkoordination Österreich, erachtet den Asyl- und Migrationspakt insofern als „historic moment“, als dieser ein Zeichen der Handlungsfähigkeit sei. Diese sei aber auf Kosten des Inhalts gegangen, so Gahleitner-Gertz. In Österreich sieht der Experte angesichts des aktuellen historischen Tiefstandes an Asylwerber:innen eine Entkoppelung des Diskurses von der Realität.

„Die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten war einer der Gründe, warum es so lange gedauert hat“, erklärte Lukas Mandl, Abgeordneter zum EU-Parlament der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten), den langen Weg zum Pakt. Er gab zu bedenken, dass die Probleme zwar nicht sofort lösbar seinen, die EU aber einen wesentlich größeren Hebel habe als Österreich alleine. Hinsichtlich der jüngsten Wahlergebnisse hierzulande zeigte er sich „betroffen“ vom Ergebnis der Nationalratswahl und „schockiert vom steirischen Wahlergebnis“. Er gestehe der FPÖ aber nicht zu, dass sie ihn antreibe, so der Abgeordnete im weiteren Verlauf der Diskussion. Auf Befürchtungen hinsichtlich eines Grundrechteabbaus entgegnete er, dass kein Teil der Welt die Menschen-, Grund- und Freiheitsrechte so sehr verteidige wie die EU.

Begrüßungsworte seitens der Veranstalter sprach Angelika Watzl, Generalsekretärin der Österreichischen Liga für Menschenrechte. Durch den Abend führte Anna-Maria Wallner, Leiterin des Debattenressorts und Podcast-Producerin der Tageszeitung „Die Presse“. Im Anschluss an die Publikumsdiskussion luden die Veranstalter zum geselligen Austausch.

Die Human Rights Talks verstehen sich als Plattform für den gesellschaftlichen Diskurs zu aktuellen Themen mit menschenrechtlicher Relevanz. Die Veranstaltungen präsentieren der interessierten Öffentlichkeit hochkarätige Vortragende und analysieren menschenrechtliche Herausforderungen sowie gesellschaftspolitische Strömungen differenziert und mit fachlicher Expertise, zugleich aber auf zugängliche Weise und mit Praxisbezug. Wichtiger Bestandteil des Formats ist neben inhaltlichen Beiträgen die interaktive Publikumsdiskussion.

a. Lukas Mandl, Adel-Naim Reyhani, Lukas Gahleitner-Gertz, Patricia Mussi-Mailer, Kathrin Stainer-Hämmerle, Angelika Watzl, Anuscheh Farahat, Ursula Kriebaum, Anna-Maria Wallner, Michael Lysander Fremuth (v.l.n.r.). © Elena Azzalini