1. Oktober 2020: Tag der älteren Menschen – Interview mit Helmut Sax
Weltweit sind derzeit über 703 Millionen Menschen über 65 Jahre alt. Nicht nur in Europa und Nordamerika, sondern auch im Osten und Südosten Asiens steigt die Zahl der älteren Menschen rapide an, sodass davon auszugehen ist, dass 2050 mehr als 1,5 Milliarden Menschen 65 Jahre und älter sein werden. In Österreich umfasst diese Gruppe derzeit knapp ein Fünftel der Gesamtbevölkerung (ca. 1,7 Millionen), davon sind etwa 850.000 Menschen 75 Jahre oder älter. Die steigende Lebenserwartung ist positiv, bringt aber auch viele Herausforderungen mit sich. Um diese gezielt anzugehen sowie um den Beitrag, den ältere Menschen in der Gesellschaft leisten, zu würdigen, haben die Vereinten Nationen den 1. Oktober zum internationalen Tag der älteren Menschen erklärt. Helmut Sax, Forscher am Ludwig Boltzmann Institut für Grund- Menschenrechte, hat einige Fragen dazu beantwortet.
Das Interview steht als PDF im Downloadbereich zur Verfügung.
Welche Rechte haben ältere Menschen? Und inwieweit gehen diese Rechte über die allgemeinen Menschenrechte, die Menschen jeden Alters zustehen, hinaus?
Sax: Es stimmt, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und die nachfolgenden Menschenrechtsverträge enthalten kein Alterslimit; daher sind allgemeine Rechte wie Meinungsfreiheit, Wahlrecht, Recht auf Gesundheit und auf angemessenen Lebensstandard natürlich auch auf ältere Menschen anwendbar.
Die Entwicklung der Menschenrechte der letzten Jahrzehnte hat aber auch die Bedeutung gruppenspezifischer Rechte deutlich gemacht, also Menschenrechte, die Standards für bestimmte typische Situationen und Herausforderungen setzen, mit denen sich Angehörige konkreter sozialer Gruppen konfrontiert sehen. Vor diesem Hintergrund wurden 1989 Rechte von Kindern in der UN-Kinderrechtskonvention formuliert, die sich etwa mit dem Kind-Eltern-Verhältnis, Gewaltschutz und Beteiligungsrechten junger Menschen beschäftigen. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen aus 2006 verlangt die Abkehr von einem Konzept, das Behinderungen als Krankheit sieht, hin zu einem Teilhabe- und Inklusionsansatz. Bemerkenswert ist aber, dass es bislang keine internationale UN-Konvention über die Rechte von älteren Menschen gibt – auch wenn Vorarbeiten dazu seit Jahren laufen, und 2015 ein solches Instrument für den amerikanischen Kontinent beschlossen worden ist.
Die Chancen, die aber solch eine spezifische Konvention bieten würde, liegen darin, eingehender auf besondere gesellschaftliche Herausforderungen reagieren zu können, die mit dem „Altern von Gesellschaften“ verbunden sind. Ich denke da etwa an Fragen des Erhalts der Autonomie und Selbstbestimmung der Person – wie es in Österreich ja auch mit der Schaffung des Erwachsenenschutzrechts 2018 unternommen wurde; an Fragen des Zugangs zu Ressourcen, der Mitbestimmung; und an die Gewährleistung von qualitätsvoller Langzeitpflege und Alternativen zu institutioneller Unterbringung. Der Mehrwert aus ähnlichen gruppenspezifischen Ansätzen ist gut dokumentiert, die Erfahrung zeigt, dass ein bloßes Mainstreaming von Anliegen und Rechten zu wenig Wirkung und Veränderung schafft – daher unterstützen wir auch die Debatte zur Schaffung eines internationalen Instruments für Menschenrechte älterer Menschen.
Derzeit erleben wir in vielen Teilen der Welt einen demografischen Wandel, der oft als „Überalterung der Gesellschaft“ beschrieben wird. Welche Herausforderungen bringt dieser mit sich? Findet hier auch eine Stigmatisierung älterer Menschen statt?
Sax: Auf einer konzeptionellen Ebene stellen sich bei den vorhin geschilderten Überlegungen zu gruppenspezifischen Ansätzen zunächst immer auch Fragen zur Definition der jeweiligen Gruppen – wer zählt zur Gruppe der älteren Menschen, richtet es sich nur nach einem Alterslimit, z. B 65 Jahre, oder etwa auch nach dem Zeitpunkt des Pensionsantritts? Bekanntermaßen steigt nicht nur die Lebenserwartung, sondern auch das Antrittsalter; lässt sich hier eine internationale Vergleichbarkeit herstellen? Und das Einteilen der Bevölkerung nach Altersgruppen kann auch Risiken mit sich bringen, wenn etwa Generationenfragen in polarisierende Generationenkonflikte gewandelt werden.
Aus einer menschenrechtlichen Perspektive betrachtet gilt es jedenfalls, Stereotypisierung von älteren Menschen und Diskriminierung aufgrund des Alters zu verhindern. Das betrifft in Bezug auf ältere Menschen etwa den Arbeitsmarkt und Arbeitsplatzsicherheit oder den Zugang zu Gesundheitsangeboten, leistbarem Wohnen und angemessenen Lebensstandard auch in der Pension. Aber eben auch die Anerkennung der Vielfältigkeit des Alterns, die über Fragen zu Gesundheit und Mobilität hinausreicht. Die demographische Entwicklung selbst aber führt freilich auch zu den bekannten öffentlichen Diskussionen über die Nachhaltigkeit von Finanzierung von Pensionen oder Langzeitpflege vor dem Hintergrund staatlicher Verantwortlichkeit – sowie zu den noch kaum geführten Diskussionen zur politischen Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen, inklusive junger Menschen. Aus meiner Sicht bräuchte es hier einen umfassenden Menschenrechtsansatz, der um eine generationale Menschenrechtsdimension erweitert wird.
Unsere Welt ist schnelllebig, wird immer digitaler und individualisierter. Welche Schwierigkeiten bringt das Älterwerden in einer solchen Gesellschaft mit sich? Und was kann speziell in Österreich getan werden, um die Rechte älterer Menschen zu verteidigen und zu fördern?
Sax: Es mangelt zur Zeit nicht an großen gesellschaftlichen Herausforderungen: Aktuell beschäftigen uns die Auswirkungen der Covid-19 Pandemie – gerade auch vor dem Hintergrund des notwendigen Erhalts von Freiheits- und Gleichheitsrechten; wir sind aber auch immer noch fern von tragfähigen Programmen für eine ökologisch nachhaltige, klimasensible Gesellschaft; und wir scheitern politisch täglich am Umgang mit Diversität und Inklusion. Dazu der übliche Chancen-/Risiken-Hinweis in Bezug auf neue Technologien, Digitalisierung und Kommunikation – all dies ist auch Rahmen für das Älterwerden in unseren Gesellschaften.
Gerade der letzte Aspekt macht die Vielfältigkeit der Themen deutlich – das von der Frage der Zugänglichkeit zu digitaler Information oder der Bedienungsfreundlichkeit von Smartphones über Unterstützung durch smart homes und ambient assisted living und den Einsatz von Online-Diensten als Kompensation bei Mobilitätsbeschränkungen – gerade auch in Covid-19-Zeiten – bis zu Fragen der Medienkompetenz und des Schutzes vor Manipulation und Datenschutz im Internet reicht.
Ganz bewusst hat vorgestern, im Vorfeld des „Internationalen Tags der älteren Menschen“, die deutsche EU-Ratspräsidentschaft die bisher größte Online-Tagung in Europa zum Thema „Stärkung der Rechte Älterer in Zeiten der Digitalisierung – Erkenntnisse aus der Covid-19-Pandemie“ abgehalten. Bemerkenswert war daran nicht nur die Verschränkung der Themen, sondern der explizit zum Ausdruck gebrachte Menschenrechtsansatz in der Debatte. Denn das Geniale am Menschenrechtsansatz ist das Zusammenwirken von Individuum und Gemeinschaft: Maßnahmen zielen darauf ab, dass Menschen ermächtigt werden, Lebensumstände auf Basis ihrer Rechte zu verbessern, und dass gleichzeitig Verantwortlichkeiten der Gemeinschaft, des Staates, klargestellt werden, um diese Veränderung, den Schutz ihrer Rechte zu ermöglichen. Das bedeutet für ältere Menschen etwa die Forderung nach besserem Zugang zu Information, Verbot der Altersdiskriminierung im Versicherungs- oder Kreditwesen, Ausbau von Demenzforschung, Zugang zu persönlichen Assistenzleistungen, würdevolle Behandlung und Schutz vor Gewalt in der Pflege, Hinterfragen von Unterbringungs- und Ausbildungsstandards, spezialisierten Rechtsschutz sowie effektives externes Monitoring von Einrichtungen. Ein Menschenrechtsansatz bietet also die Chance für Paketlösungen. Nicht isolierte Einzelaktionen werden erwartet, sondern ein Gesamtpaket, das auch Umgebungsbedingungen, von Covid-19 bis Internet, integriert.
Wie wird das Ludwig Boltzmann Institut für Grund- und Menschenrechte in diesem Bereich tätig?
Sax: Das BIM ist ein Forschungsinstitut, das sich auf den Bereich der Menschenrechte spezialisiert hat. Wir sehen uns dabei durchaus als Mittler zwischen Forschung und Praxis, arbeiten also sehr anwendungsorientiert. Mein ursprüngliches Kernarbeitsgebiet sind Menschenrechte von Kindern und Jugendlichen – auch hier stehen Alters- und Entwicklungsfragen im Mittelpunkt, aber auch Aspekte von Autonomie, Schutz und Partizipation. In Bezug auf Menschenrechte von älteren Menschen arbeiten wir am Institut aktuell am Aufbau eines längerfristigen Forschungsprogramms, integrieren das Thema in bestehende Programme, von Anti-Diskriminierung bis zu Rechtschutzfragen, beteiligen uns an Vernetzungsinitiativen wie dem „Netzwerk Altern“ und freuen uns über Zusammenarbeit mit anderen interessierten gesellschaftlichen Akteuren.