21 Feb 2022 von lbigmr

Gastkommentar von Jovana Tosic: Die Reaktion der EU auf die Krise in der Ukraine – Einigkeit in schwierigen Zeiten?

DIE REAKTION DER EU AUF DIE KRISE IN DER UKRAINE – EINIGKEIT IN SCHWIERIGEN ZEITEN?
– Ein Kommentar von Jovana Tošić (Serbien), Gastwissenschaftlerin am LBI-GMR.

Die Spannungen zwischen Russland und der Ukraine gehören seit nunmehr einigen Jahren zu den wichtigsten geopolitischen Themen und Herausforderungen. Fast acht Jahre nach der Annexion der Krim hat Russland rund 100.000 Soldaten in der Nähe der ukrainischen Grenze stationiert, was weltweit die Angst vor einem neuen Krieg in Europa schürt.

Nach der Nichteinhaltung des Minsker Abkommens zur Herstellung des Friedens in der Ostukraine hat die EU beschlossen, die restriktiven Maßnahmen, die derzeit auf den Finanz-, Militär- und Energiesektor der Russischen Föderation abzielen, um weitere sechs Monate zu verlängern. Im Rahmen der Beschränkungen ist der EU-Kapitalmarkt für russische Banken und Unternehmen versperrt. Ebenso ist es EU-Unternehmen untersagt, Dienstleistungen für russische Finanzinstitute zu erbringen. Obwohl die EU die fortgesetzte russische Militäraufrüstung in der und um die Ukraine herum wiederholt und sehr deutlich kritisiert hat, scheinen die EU-Staaten uneins zu sein, welche Art von Reaktion Russland wirksam von einer weiteren Bedrohung der und Intervention in der Ukraine abhalten kann. Die politischen Führer*innen debattieren über mögliche Handelsverbote, Sanktionen im Energiebereich und den Ausschluss Russlands von den Hightech- und Finanzmärkten. Was die verfahrenstechnischen Anforderungen angeht, so bedürfen restriktive Sanktionen der EU der vollständigen Einstimmigkeit von 27 Mitgliedstaaten, was in der Praxis eine besondere Herausforderung darstellt. Obwohl der Hohe Vertreter der EU für Auswärtige Angelegenheiten zur Einigkeit mit den USA und der NATO aufgerufen hat, scheint sich die EU nur über Sanktionen im Falle eines tatsächlichen Angriffs auf ukrainischem Boden einig zu sein, aber darüber hinaus gibt es immer noch keine Einigung über andere Triggerpunkte. Während Frankreich für ein einheitliches diplomatisches Vorgehen plädiert, bevorzugen andere Mitgliedstaaten, vor allem aus dem ehemaligen Ostblock, die eine schwierige Geschichte mit Russland haben, eine offensivere transatlantische Reaktion, um Stärke zu demonstrieren und Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Gleichzeitig verstärken die USA und die NATO ihre Einsatzbereitschaft, indem sie Tausende von Soldat*innen in der Nachbarschaft der Ukraine in höchste Alarmbereitschaft versetzen, und sie werden von einigen europäischen Staaten wie Spanien, Belgien und den Niederlanden unterstützt. (Un-)überraschenderweise scheint Deutschland die diplomatischen Anstrengungen eher wie ein Zaungast zu beobachten und weigert sich, irgendetwas außer medizinischer Hilfe in die Ukraine zu schicken. Die neu gebildete deutsche Regierung hat sich mutmaßlich aufgrund ihrer engen wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland vor einer starken politischen Haltung und einem militärischen Einsatz gedrückt. Auf der anderen Seite bestreitet Russland jegliche Invasionspläne gegen die Ukraine und gibt dem Westen die Schuld für die sich verschlechternde politische Lage verantwortlich zu sein. Darüber hinaus scheint sich Russland der mangelnden Einigkeit innerhalb Europas bewusst zu sein, die dem Kreml möglicherweise Rückenwind geben und ihn dazu bewegen könnte, seine Truppen weiter in Richtung Ukraine zu verlagern.

Die EU muss zusammen mit ihren Partner*innen ein gemeinsames diplomatisches Vorgehen artikulieren und spezifische Auslöser für verschiedene restriktive Sanktionen identifizieren. Das kürzlich von der Kommission vorgeschlagene EU-Anti-Zwangs-Instrument öffnet weite Spielräume für Wirtschaftssanktionen gegen Russland, indem es die Union in die Lage versetzt, den Offensivmaßnahmen von Drittländern entgegenzuwirken. Es könnte sich jedoch die Frage stellen, ob diese Maßnahmen gegen die völkerrechtlichen Verpflichtungen der EU verstoßen, die das Verbot der Nötigung im Rahmen des allgemeinen Grundsatzes der Nichteinmischung vorsehen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, an die rechtmäßigen Ausnahmen von der allgemeinen Regel in Theorie und Praxis des Völkerrechts zu erinnern, die sowohl militärische als auch nichtmilitärische Maßnahmen zulassen, wenn der internationale Frieden auf dem Spiel steht. Im Übrigen hat die EU ihre Bereitschaft gezeigt, ihre interne Ordnung mitunter sogar auf Kosten der internationalen Ordnung aufrechtzuerhalten, bereits unter Beweis gestellt, wie das berüchtigte Kadi-Urteil gezeigt hat.

Schließlich ist es wichtig, die Aufmerksamkeit auf mögliche Menschenrechtsverletzungen zu richten, die sich aus russischen militärischen Drohungen und einer möglichen Invasion ergeben. Sollte die Krise weiter eskalieren und zu einer tatsächlichen Militäraktion führen, wären die Folgen verheerend, vor allem, wenn man die jüngste Geschichte der problematischen russischen Militärinterventionen in Syrien und darüber hinaus bedenkt. Eine humanitäre Katastrophe dieser Art würde wahrscheinlich eine weitere Welle verschiedener Migrationsströme in die europäischen Nachbarländer auslösen, die die derzeitigen internen Meinungsverschiedenheiten der EU über die Außenpolitik fortsetzen, aber auch einige bereits bestehende Spannungen im Bereich der EU-Asylpolitik aufflammen lassen könnten. Außerdem könnte das geopolitische Gleichgewicht durch eine mögliche militärische Instrumentalisierung der energiepolitischen Strategien der Länder ernsthaft beeinträchtigt werden, was unvorstellbare Folgen für die Menschenrechte von Millionen von Menschen hat.

Daher muss die EU ihre innere Stärke und Einheit wiederbeleben, die über bloße diplomatische Rhetorik hinausgeht, oder sie wird weiterhin ins Abseits gedrängt werden. Obwohl die oben erwähnten Maßnahmen zur Verhinderung von Zwang als nützliche Strategie gegenüber Russland angesehen werden könnten, sollen sie nur dann in Gang gesetzt werden, wenn der Gegner die „rote Linie“ überschreitet. Angesichts der jüngsten internen Meinungsverschiedenheiten darüber, wie die Ukraine-Frage angegangen werden soll (entweder mit harten oder nur mit begrenzten Maßnahmen), fällt es der EU derzeit schwer, als führender internationaler Akteur angesehen zu werden. Wenn die Ukraine fällt, könnten wir Zeuge eines der gefährlichsten Momente der Nachkriegszeit in Europa werden, mit schwerwiegenden Folgen für die Union und ihre gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.
Übersetzung aus dem Englischen: Franziska Wangler

a. Jovana Tosic – Guest Commentary