Gewalt an Menschen mit Behinderungen – Forschungsergebnisse
Die im Auftrag des Sozialministeriums und vom Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS, Projektleitung: Hemma Mayrhofer), dem Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte (Sabine Mandl), queraum, kultur und sozialforschung (Anna Schachner) sowie Hazissa (Yvonne Seidler) durchgeführte Studie erhob erstmals in ganz Österreich Gewalterfahrungen in allen Lebensbereichen.
Die Studie steht als PDF im Downloadbereich zur Verfügung.
Österreichweit waren in Summe 376 erwachsene Menschen mit Behinderungen oder psychischer Erkrankung befragt worden, die in institutionellen Settings leben oder arbeiten (z.B. Wohnheime, betreute WGs, Tagesstruktur-Einrichtungen etc.). Knapp die Hälfte der Befragten sind Personen mit Lernschwierigkeiten (sog. geistige Behinderung), ein Drittel Personen mit psychischer Erkrankung, ein Fünftel mit einer Körperbehinderung. Zudem wurden 86 Interviews mit Personal aus insgesamt 43 verschiedenen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen geführt. Hinzu kamen 25 ExpertInnen-Interviews und 15 vertiefende qualitative Interviews.
Mehr als acht von zehn Personen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung gaben an, in ihrem Leben bereits psychische Gewalt erfahren zu haben. Das können leichtere oder schwerere Formen sowie nur seltene oder auch häufigere Gewalterfahrungen sein. Sechs von zehn Personen ist in ihrem Leben bereits schwere, d.h. in höherem Ausmaß strafrechtlich relevante psychische Gewalt wider-fahren (z.B. hartnäckige Belästigung, gefährliche Drohung etc.). Jede dritte befragte Person gab an, auch in den letzten drei Jahren von schwerer psychischer Gewalt betroffen gewesen zu sein. Vergleicht man diese Ergebnisse mit einer 2011 veröffentlichten Studie des Österreichischen Instituts für Familienforschung zu Gewalterfahrungen von Menschen ohne Behinderung, dann deuten sich bei Menschen mit Behinderungen ein signifikant höheres Ausmaß an Gewalterfahrungen an. Letztere berichteten etwa bis zu dreimal so häufig wie Menschen ohne Behinderung, bereits „wiederholt hartnäckig verfolgt oder belästigt worden“ zu sein.
Knapp acht von zehn befragten Personen nannten körperliche Gewalterfahrungen. Vier von zehn Personen gaben auch an, in ihrem Leben schon schwere Formen körperlicher Gewalt erfahren zu haben. Eine von zehn Personen war schwerer körperlicher Gewalt auch in den letzten drei Jahren ausgesetzt. Zudem berichteten Personen mit Unterstützungsbedarf bei Grundbedürfnissen wie Körperpflege wesentlich öfter als die anderen Befragten, in den letzten drei Jahren körperliche Gewalt erfahren zu haben. Die statistische Analyse weist darauf hin, dass der hochsignifikante Unterschied unter anderem auch direkt mit betreuungsrelevanten Gewaltformen zusammenhängt (z.B. „bei Pflege- oder Betreuungstätigkeit unangemessen hart bzw. grob angefasst worden“). Und auch bei körperlicher Gewalt zeigen sich bei Menschen mit Behinderungen insgesamt signifikant höhere Gewaltwerte als bei Menschen ohne Behinderungen. Beim Gewaltitem „getreten, gestoßen oder hart angefasst worden“ ist die Gewaltbetroffenheit im gesamten Leben etwa doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Behinderung, in den letzten drei Jahren sogar bis zu viermal so hoch. Auch beim Gewaltitem „mit einer Waffe (z.B. Messer oder Pistole) bedroht worden“ liegen die Werte bei Menschen mit Behinderungen oder psychischer Beeinträchtigung drei- bis viermal so hoch.
Jede zweite befragte Person mit Behinderung oder psychischer Erkrankung antwortete, in ihrem Leben bereits von sexueller Belästigung oder schwereren Formen sexueller Gewalt betroffen gewesen zu sein. Jede dritte Person berichtete über schwere Formen sexueller Gewalt mit direktem Körperkontakt. Eine von zehn Personen antwortete, solche schwere sexuelle Gewalt auch in den letzten drei Jahren erlitten zu haben. Frauen sind mit oder ohne Behinderung wesentlich öfter von sexueller Gewalt betroffen als Männer. Allerdings gaben auch Männer mit Behinderungen erheblich öfter als Männer ohne Behinderung an, sexuelle Gewalt erfahren zu haben. Frauen ohne Behinderungen nannten häufiger Formen sexueller Belästigung, während Frauen mit Behinderungen oder psychischer Erkrankung öfter schwere Formen sexueller Gewalt („hands on“ bis hin zu Vergewaltigung) angaben.
In der Studie konnten durch multivariate statistische Analysen Faktoren identifiziert werden, die das Risiko von Gewalterfahrungen für Menschen mit Behinderungen signifikant erhöhen. Die Ergebnisse zeigen u.a.: Wenn Personen in einem von Lieblosigkeit und/oder körperlicher Gewalt geprägten familiären Umfeld aufwuchsen, geht damit ein wesentlich höheres Risiko einher, selbst von psychischer, körperlicher und teils auch sexueller Gewalt in allen Lebensphasen, d.h. auch als Erwachsene, betroffen zu sein. Auch bei Personen mit psychischer Erkrankung lassen sich vielfach signifikant höhere Gewalterfahrungen feststellen. Hier ist einerseits die Frage zu stellen, in welchem Ausmaß die Gewalt zur psychischen Erkrankung beitrug. Andererseits ist davon auszugehen, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten (sog. geistiger Behinderung) Gewalterfahrungen weniger gut benennen können. Hier könnten somit die erhobenen Werte tendenziell zu niedrig sein.
Die Analysen verdeutlichen zudem mehrfach: In Einrichtungen mit niedrigen Personalressourcen in der Betreuung berichteten die befragten Personen signifikant öfter von Gewalterfahrungen. Dies dürfte u.a. aus ungenügend Zeit für eine personenzentrierte Betreuung resultieren, aber auch daraus, dass auf Konflikte und Gewalt zwischen BewohnerInnen der Einrichtung weniger gut reagiert werden kann. In den ExpertInnen-Interviews wurde zudem thematisiert, dass unverhältnismäßige strukturelle Einschränkungen in einer Einrichtung, z.B. fehlende Rückzugsmöglichkeiten oder fixe Waschzeiten, die Autonomie und Selbstbestimmung der Menschen verletze und das Gewaltrisiko erhöhe.
Um Gewalt an Menschen mit Behinderungen entgegenzuwirken, braucht es verschiedenste Maßnahmen. Zentral ist, dem Aufwachsen in einem von Gewalt und Lieblosigkeit geprägten Umfeld entgegenzuarbeiten, verbunden mit therapeutischen Angeboten zur Aufarbeitung von Gewalterfahrungen. Generell ist wichtig, Information und Unterstützung bei bzw. gegen Gewalt einfach und lebensweltnah zu gestalten. Zudem sind soziale Kontakte und Vertrauenspersonen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Einrichtung ein wichtiger Schutz. Es braucht ausreichend Betreuungspersonal, verbunden mit personenzentrierten Betreuungskonzepten und Unterstützungsformen, die den unterstützten Menschen Partizipation und eine selbstbestimmte Lebensgestaltung ermöglichen. Hierzu zählt, dabei mitreden zu können, wer einem unterstützt. Generell ist möglichst viel Wahlfreiheit bezüglich der Wohn- und Unterstützungsform essenziell.
Auf der Website des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz gibt es die Studie zum Download: Erfahrungen und Prävention von Gewalt an Menschen mit Behinderungen
Kontakte:
Dr.in Hemma Mayrhofer (Studienleiterin/Institut für Rechts- und Kriminialsoziologie)
Mag.a Sabine Mandl (Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte)
Mag.a Anna Schachner, MA (queraum. kultur- und sozialforschung)
Dr.in Yvonne Seidler (Hazissa)